Als ich den Auftrag bekam, Jelgava 94 zu übersetzen, wusste ich sofort: Das wird eine große Herausforderung. Ich hatte zwar Baltistik studiert, aber schon einige Jahre lang Lettisch nicht mehr aktiv gesprochen oder übersetzt. Im Nachgang betrachtet war es schon eine nicht richtig durchdachte Idee, eine Literaturübersetzung für diesen Coming-of-Age-Roman zu liefern. Was folgte, waren Monate, in denen ich nicht nur viel übers Übersetzen gelernt habe, sondern auch darüber, wie ich mit Zweifeln umgehen kann, wo ich Hilfe finde und warum ich diesen Roman immer wieder übersetzen würde.
Jelgava 94 ist ein besonderer Roman in der Hinsicht, dass er ein Gefühl repräsentiert: Anderssein. Metal steht als Subkultur hier im Mittelpunkt. Wie fängt man diese Energie ein, die Rebellion gegen das Establishment, die sich nicht nur in der Handlung, sondern in jedem einzelnen Satz ausdrückt? Das fängt bei vermeintlich einfachen Dingen an: Sind „metalisti“ im Deutschen „Metalheads“ oder „Metaller“? Hier geht es ja um eine Lebenseinstellung – in diesem Fall um die Möglichkeit, sich abzugrenzen von einer noch sowjetisch geprägten Gesellschaft. Diese kulturellen Codes zu übersetzen, bedeutet mehr, als nur Wörter zu finden – ich stand vor der Aufgabe ein Gefühl zu vermitteln.
Diese Herausforderung eines guten Kulturtransfers begegnet uns Übersetzer*innen täglich. Eine Literaturübersetzung ist immer weit mehr als nur die Übertragung der Wörter in der richtigen Reihenfolge – sie ist auch mit Lokalisierung und Erklärungen von Sachverhalten verbunden. Wir sind weit mehr als nur Vermittler*innen zwischen Sprachen – wir bauen Brücken zwischen Kulturen, sind also eine Art literarische Architekt*innen, die Texte nicht einfach übertragen, sondern sie für eine andere Leserschaft neu erschaffen.
Architektur und persönliche Entscheidungen
Einen Roman zu übersetzen gleicht also ein wenig der Arbeit von Architekt*innen: Man entwirft quasi eine gotische Kirche in Tokio – mit lokalen Materialien, aber so, dass sie als gotische Kirche eindeutig zu erkennen ist.
Es sind die Übersetzer*innen, die Länderliteraturen für anderssprachige Leserschaften eröffnen. Hinter jedem übersetzten Buch steht mindestens eine Person, die über Wochen und Monate einen Großteil ihrer Zeit damit verbracht hat, Dinge zu recherchieren, an Formulierungen zu feilen. Eine gute Übersetzung kann über den Erfolg eines Buches auf dem deutschen Markt entscheiden. Es gibt viele Menschen, die ihre Auswahl sogar nach dem Namen der übersetzenden Person wählen. Übersetzen ist eine individuelle Entscheidung – und kaum irgendwo zeigt sich das so sehr wie bei einem Vergleich von Übersetzungen eines einzelnen Werks.
Ein Beispiel, welche Kontroverse eine Übersetzung auslösen kann, ist die englische Übersetzung von Han Kangs Roman Chaeshikjueuija – The Vegetarian. Nach dem Erscheinen tauchten in der koreanische Presse immer mehr Berichte auf, die Deborah Smiths Übersetzung als „off the mark“ – also, als „daneben gegriffen“:
„For one thing, Smith amplifies Han’s spare, quiet style and embellishes it with adverbs, superlatives and other emphatic word choices that are nowhere in the original. This doesn’t just happen once or twice, but on virtually every other page. Taken together, it’s clear that Smith took significant liberties with the text.“
Charse Youn, Los Angeles Times
Interessant dabei ist, dass die englischsprachigen Leser*innen diese Freiheiten der Übersetzerin nicht nur nicht bemerkt haben, sondern sogar begrüßt haben. The Vegetarian hat sich auf dem US-Markt sehr gut verkauft und bekam eine ganze Reihe sehr guter Kritiken.
Wie auch immer man bewerten möchte, dass sich Deborah Smith diese Freiheiten genommen hat: Für Amerikaner*innen hat The Vegetarian die Türen weiter geöffnet für koreanische Literatur und Kultur. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Übersetzungen aus dem Koreanischen, übrigens auch in Deutschland – vor allem von Ki-Hyang Lee.
#NameTheTranslator: Fehlende Sichtbarkeit und faire Bezahlung
Die Statistik ist aber ernüchternd: Laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels nennen nur 54 % der übersetzten Bücher ihre Übersetzer*innen auf dem Cover. Wir sprechen hier von Belletristik, für Sachbücher sieht die Lage noch einmal anders aus, denn hier stehen andere Merkmale im Vordergrund. Es ist also eher unüblich, Namen der Übersetzer*innen direkt auf dem Cover zu finden.
Diese Sichtbarkeit ist jedoch vor allem bei der Belletristik sehr wichtig – nicht nur für die Anerkennung der Arbeit der übersetzenden Personen, sondern auch für eine faire Bezahlung. Inzwischen reicht es nicht mehr, wenn man aus einer großen Sprache wie Englisch übersetzt, zum Überleben. Viele Übersetzer*innen können kaum noch ihre Lebenshaltungskosten mit ihrem Beruf decken und müssen weitere Services anbieten oder übersetzen nur noch neben einem Hauptjob.
Das betrifft vor allem kleine Sprachen: Unter den Lettisch-Übersetzer*innen in Deutschland gibt es nur eine Person, die Übersetzen als Hauptberuf ausübt – für rechtliche Dokumente und mit gleich meheren Sprachen. Selbst hier ist die Literaturübersetzung nur eine Randerscheinigung.
Mit dem Hashtag #namethetranslator machen Übersetzer*innen in den sozialen Medien immer mehr auf ihre Situation aufmerksam und erhöhen damit das Bewusstsein für die Arbeit aller Kolleg*innen.
Die Brücke betreten: Warum Übersetzer:innen wichtig sind
Wenn Sie das nächste Mal einen übersetzten Roman in die Hand nehmen – egal in welcher Sprache – denken Sie an die Menschen, die diese Texte zugänglich gemacht haben. Übersetzer*innen sind mehr als nur Sprachmittler*innen. Sie vermitteln Kultur und helfen uns dabei, die Welt durch andere Augen zu sehen. Mit Übersetzungen erföffnen Sie uns andere Kulturen und Denkweisen, die uns wiederum bereichern, verwundern können.
Oder sie erinnern uns daran, dass wir uns ähnlich sind: Jelgava 94 hat auch deshalb in meinem Herzen bis heute einen besonderen Platz, weil es zeigt, dass Erwachsenwerden nie einfach ist – auch nicht als Metalhead in einer lettischen Kleinstadt.