Inga Gaile: Der Geschmack von schwarzer Erde

Inga Gaile: Der Geschmack von schwarzer Erde

ICH WILL EINE GESCHICHTE ERZÄHLEN. Ich will meine Geschichte erzählen. Nur, wie soll ich das tun?
Ich kann es versuchen.
Das Ereignis ist einfach … Es gibt überhaupt kein Ereignis. Es ist eher die Unfähigkeit der Heldin zu verstehen, was wirklich geschehen ist. Zu erklären, was passiert ist, was ihr durch die Finger geglitten ist, ein Loch in ihre Brust gerissen, was sie mit dieser Kraft konfrontiert hat, Auge in Auge, mit dieser Kraft, die nicht ihre ist, nicht ihre sein kann, nie ihre gewesen war. Es ist nicht meine, ich habe diese Schmerzen nicht verdient. Du hast davon keine Ahnung. Ich schaffe es einfach nicht, mich zu sammeln und normal zu sein. Wer würde dich so lieben? Schau dich an. Eine junge Frau.
Warum denn plötzlich jung? Eine Frau.
Und warum plötzlich eine Frau? Ja, wir wissen noch nicht, ob es eine Frau oder ein Mann sein wird.
Ein Mensch?
Ein Mensch. Noch kennt niemand diesen Menschen, weder sein Alter, sein Geschlecht noch seinen Namen.
Ein Mensch geht an einem kalten Wintertag in eine Kirche und kniet vor dem Altar nieder.
Es ist kein Wintertag.
Ja, richtig, der Frühling hat schon begonnen. Trotzdem liegt noch sehr viel Schnee. Der Mensch schämt sich nicht, in der Kirche auf die Knie zu fallen, in einem Streifen des Winterlichts, das durch die Buntglasfenster fällt durch Marias demütig geneigtes Haupt und den Heiligenschein, den der Mensch im Moment der Kopfbeugung noch nicht erkennt, weil …
Hier muss angemerkt werden, dass es doch nicht Tag ist. Es ist Morgen. Der Morgen eines Arbeitstages. An einem Wochentagsmorgen, an dem die anderen arbeiten, an dem sie ihre schönen, zarten Kinder wecken und liebkosen, ist dieser Mensch betrunken. Der Mensch geht an diesem kalten, verschneiten Morgen im ersten Frühlingsmonat angetrunken, nein, besoffen in die Kirche und kniet nieder. Der Mensch schämt sich nicht, weil er also, wie schon erwähnt, erstens betrunken ist und der Suff sein sonst immerwährendes, andere Emotionen überdeckendes Schamgefühl unterdrückt. Und zweitens ist es in der Kirche dunkel. Wenn auch nicht ganz. Ein anderer Mensch wischt den Boden in der Kirche. Dieser Mensch hat ein weißes Tuch und einen Eimer, aus dem er den Lappen für den Boden nimmt, ihn auswringt, um die Bürste wickelt und den Boden wischt; selbst zu dem anderen, das heißt, zu dem ersten Menschen schaut er nicht hinüber. Schaut nicht einmal zu diesem Menschen hinüber, der an einem kalten, verschneiten Wintermorgen in die Kirche geht und theatralisch auf den mit rotem Samt überzogenen Rand des Altars fällt.
„Jetzt nur nicht umkippen“, denkt der Mensch und faltet die Hände, senkt den Kopf und spricht sein Gebet.
Und das geht in Erfüllung. Geht ganz in Erfüllung.

 

Violette

 1941

 Eine Sirene beginnt zu heulen, was an einem anderen Morgen bedeuten würde, dass wir aufstehen müssen. Wir müssen uns von den Pritschen rollen, müssen nachsehen, ob die, mit denen wir zusammen eingeschlafen sind, nicht gestorben sind, müssen die Schlafstelle aufräumen, Unterwäsche anziehen, die sauber sein muss, die jedoch nicht sauber sein kann, weil wir sie mit kaltem Wasser waschen müssen, ohne Seife, und sie kann nicht trocknen. Eine der Aufseherinnen treibt uns an, mit hochgezogenen Röcken in einer Reihe an ihr vorbeizugehen. Jene, die keine sauberen Unterhosen oder überhaupt keine Unterhosen tragen, werden bestraft. Sie wollen uns erziehen. Aufziehen zu ordentlichen Frauen. Nur für die Polinnen, die Zigeunerinnen und die Huren gibt es darauf keine Hoffnung. Huren und Zigeunerinnen, die sich nicht benehmen können, sind im Strafblock, in dem ich auch gelandet bin. Die Aufseherin, die Hyäne, die Schuld daran hat, dass ich im Strafblock bin, sie kann mich nicht ausstehen. Weil ich schön bin. Das ist mein Kapital. Das hat meine Tante gesagt, die mich aufzog, weil meine Mutter an Tuberkulose starb. Und ein anderes Kapital hat sie mir nicht hinterlassen. Nur mein Aussehen. Meine Tante sagt: Violette, das ist viel. Einer Frau, die schön geboren ist, ist ein glückliches Schicksal bestimmt, Violette. Das hat sie mir gesagt. So wie es aussieht, wird sie nicht recht behalten.
Und dann meine kleine Freundin, eine Zeugin Jehovas, die ich hier nicht so nennen darf, aber genau deshalb nur so nenne, manchmal sage ich sogar: Jehovas Freundin, doch laut nenne ich sie nur die Kleine, in Gedanken hinzufügend: Jehovitin, damit Gottes wahrer Name, mit dem sie mir im Flüsterton in Erinnerung ruft, dass dies eine weltweite Verschwörung ist, dass es dieser Gott ist und die Weltverschwörung die, die ihn vor uns verstecken will – zumindest in irgendeiner Weise bis zu diesem Winkel der Hölle. Also bietet mir die Kleine an, meine Haare auf Papierchen zu wickeln, für all das Gute, das ich für sie getan haben soll. Mein weizenblondes Haar, die glänzenden Locken erleuchteten das ganze graue Territorium von Ravensbrück, und ein Strahl meiner Schönheit traf den mit grauen, glatten Strähnen bedeckten Schädel der Hyäne mit einem solch schmerzhaften Lärm, dass sie mich sofort in den Strafblock schickte. Um zu lernen, wie man sich benimmt. Die Haare konnte sie mir nicht mehr abrasieren, weil sich herausstellte, dass Katrīna wieder geflüchtet war.
Die Sirene brüllt: Steht auf, steht auf, wir wollen euch zählen. Doch die Sirene hat diesen Morgen gar keinen Sinn, weil wir wach sind. Weil alle Gefangenen wach sind. Genauso wie alle Aufseherinnen und Hunde. Alles, was lebt, ist wach. Nur Gott ist eingeschlafen. Gott, du schläfst, Gott, du Arschloch, du schläfst.
Durch Violettes Beine, sogar bis in den Bereich dazwischen, zieht ein unerträglicher Schmerz. Sie gerät ins Wanken. Die Aufseherin, die einen Hund gepackt hat, der so etwas wie einen Regenmantel mit Hakenkreuz trägt, brüllt: „Gerade stehen!“ In den Nächten erleuchten Scheinwerfer die grauen Gefangenen, damit sie geradestehen. Die Scheinwerfer sind noch nicht ausgeschaltet.
Violette, du bist ein Star, steh gerade! Gerade steht das ganze Lager. Wenn die Aufseherinnen nicht hinsehen, setzt Violette sich. Sie lässt sich auf die staubige Erde sinken, wohl wissend, dass sie vielleicht nicht mehr hochkommen wird. Die kleine Jehovitin traut sich das nicht mehr, denn sie fürchtet sich vor den Hunden. Die große Polin war eingeschlafen, hatte die Aufseherin nicht bemerkt, und die hetzte den Hund auf sie. Jetzt hat sie ein zerbissenes Bein und kann nicht mehr stehen. „Säubert meine Wunde. Ich könnte euch eine Infektion einschleppen“, heult sie. Die Polin ist schlau. Die Möglichkeit, dass eine Infektion eingeschleppt wird, beunruhigt sie. Ein Arzt schleppt sich heran, die Polin stöhnt, er säubert und verbindet ihre Wunde. Der Arzt ist ziemlich dick. Violette könnte den Arzt aufessen, denn seit drei Tagen hat sie auch nicht gegessen. Nur ein wenig Wasser getrunken. Würde sie den Arzt essen, würde sie den nur mit der kleinen Jehovitin teilen. Sollen die anderen doch die Aufseherinnen fressen. Die sind größtenteils knochig. Menschenfleisch sei dem von Hühnern ähnlich, hatte ihr Linens erzählt. Warum sprachen wir darüber? Und dann? Violette erinnert sich, dass sie im Bett lagen, sie hatte ihren Kopf gegen seine Schulter gelehnt und geraucht. Eine Zigarette würde mich jetzt töten, denkt Violette. Aber ich würde auch für eine Zigarette töten. Drei Tage standen sie als Lektion, um zu lernen, was mit den anderen passieren würde, wenn eine flüchtete. Dies ist der Morgen des dritten Tages.
Ein Morgen, der die Bezeichnung Morgen nicht verdient hat. Fünf Uhr morgens. Es ist dunkel. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Violette weiß, wie spät es ist, denn die Sirene geht um fünf los. Sie lassen die Sirene heulen, damit sie sie noch mehr einschüchtern würde. Wenn es ein gewöhnlicher Tag wäre, würden sie in den Hof kommen und ein, zwei Stunden stehen, während man sich davon überzeugen würde, dass alle hier sind. An Ort und Stelle. Dass sie nicht in der Nacht gestorben sind oder vielleicht in einer Ritze des Bodens eingeklemmt oder geflohen wie Katrīna, dank der, dank, wirklich dank, nein, nicht dank, Dank ist ein Wort, das niemals mehr in dieser Welt verwendet wird, nein, sie ist schuld, dass dies kein gewöhnlicher Tag ist.
Das hier ist doch kein gewöhnlicher Tag. Oder? Ist das, was hier geschieht, vielleicht das, wie er sein sollte? Vielleicht wollen sie uns wirklich beibringen, uns richtig zu benehmen? Vielleicht? Kann das sein? Sauberkeit, Geduld, Ordnung. Die Frau ist die Quelle alles Schönen. Und wenn die Quelle nicht rein ist, dann ist nichts rein, was aus ihr entspringt. Vielleicht demütigen sie uns deshalb, lassen uns mit angehobenen Röcken vor den Baracken stehen, wenn wir die Pritschen ihrer Meinung nach nicht richtig gemacht haben, oder rasieren uns das Haar ab, wenn wir uns die Freiheit genommen haben, es zu frisieren? Weil eine Frau nicht auch Hure sein muss. Eine einfache Frau. Ein einfacher Tag. Ein einfaches Lager für einfache Frauen, damit sie bessere werden würden … Und davor?
Die ganze Zeit dachte ich, dass mein echtes Leben gerade anfangen würde. Nachdem man mich geküsst hat, nachdem man mich ausgewählt hat, nachdem … nachdem … Hier ist die Zeit gefroren und hier gibt es keine Wahl. Vielleicht im Draußen, denkt Violette. Nein, wer weiß. Auch im Draußen war jeder Tag von Angst erfüllt. Von der Angst, dass etwas Hoffnungsloses passieren wird, dass sie sich falsch verhalten würde, nicht sauber sei, schlecht aussehen, die Strümpfe eine Laufmasche haben würden, dass sie nicht zum Tanz aufgefordert werden könnte. Sie wurde immer aufgefordert, weil sie eine Schönheit war. Das hatte Violette gelernt. Violette ist schön, wenn sie das Richtige tut. Wenn sie nicht widerspricht. Linens hatte sie verlassen, weil sie angefangen hatte, über das Heiraten zu reden. Oder doch nicht?
Violette gelingt es nicht, darüber nachzudenken. Wenn sie anfängt nachzudenken, wann und welchen Fehler sie gemacht hat, dann muss sie daran denken, was sie falsch gemacht hat, wie das passiert ist, dass sie in dieser Nacht steht, die sie nicht Morgenröte nennen kann, in diesem blutigen Pfuhl, in diesem Hof. Sie hat keine Kraft für diese Gedanken. Sie ist hier mit anderen. Mit den anderen. Mit Menschen, die doch keine Menschen sind. Mit Frauen. Seltsam ist das, doch diese Gemeinschaft … das heißt, doch es gibt etwas, was sie bis jetzt noch nicht erlebt hat. Weder die Schläge noch das, das nicht einmal einen Namen hat, das jedoch das Wort „Dankbarkeit“ von dieser Erde gerissen hat, nicht das. Auch diese Schläge erlebt Violette das erste Mal. Auch ihre Tante hatte sie verdroschen, wenn sie ungehorsam war, doch das, was hier geschieht … das, was sie das erste Mal erlebt hat, ist diese … Violette würde gern das Wort „Freundschaft“ verwenden. Sie kann sich nicht erinnern, aber sie darf nicht dorthin gehen, dorthin, wo sie geküsst wird, dort, wo sie küsst, weiter – nein, dort darf sie nicht hingehen, denn sie muss überlegen, aber an jenem Ort, zu jener Zeit, wo Linens sie küsste, wo sie ihn küsste, hatte sie dort Freundinnen? Es ist nicht so, dass sie hier Freundinnen hätte. Dennoch gibt es gewisse Dinge, gewisse Berührungen, ja, Berührungen, Streicheln, Worte, sogar Worte, ein sanftes Flüstern, als sie nach einer Bestrafung im Fieberwahn fantasierte, jemand nahm ihre Hand, legte eine Hand auf ihre Stirn, vielleicht ist es gar nicht geschehen, denn es ist verboten, dennoch weiß sie, dass es passiert ist. Es ist geschehen. War es vielleicht die kleine Jehovitin? Ja, das war sicher sie, die in diesem Moment neben ihr schwankt.
Der Schmerz ist überall. Katrīna, ich werde dich umbringen, denkt Violette. Katrīna, du Kind einer Hure. Die Aufseherinnen mit den Hunden sind am entferntesten Ende des Lagers. Violette setzt sich, die große Polin sinkt neben ihr stöhnend nieder. „Setz dich, Kleine“, flüstert Violette. „Dein Jahve erlaubt es dir.“ Die Kleine schüttelt den Kopf. Sie hat schreckliche Angst vor den Hunden.
Violette ahnt, dass es im Lager andere gibt, die in jene Zeit und an jenen Ort gehen, wohin sie niemals geht, die im Flüsterton über einen Aufstand sprechen, darüber sprechen, dass sie nicht das Letzte vom Letzten sind, dass die Aufseherinnen nicht die Wahrheit sagen. Aber nicht sie. Sie braucht das nicht. Sie ist schon in Unannehmlichkeiten geraten. Sie hat schon rebelliert. Jetzt will sie nur überleben. Das ist das Einzige, was wichtig ist. Um jeden Preis überleben. Vor dieser ganzen Angelegenheit mit dem Singen hatten sie Violette sogar angeboten, sie zur Kapo zu machen. So gut hatte sie gelernt, sich an diesem Ort zu benehmen. Trotzdem lehnte sie ab. Eine schwarze Dunkelheit in ihr schrie, dass das ein Widerspruch zu ihrem Wunsch zu überleben sei. Danach bestrafte man sie. Nicht nur, weil sie das Angebot abgelehnt hatte. Und trotzdem dafür.
Sie hatte Angst, dass sie die kleine Jehovitin totschlagen würden, sie hatte überhaupt nicht gelernt sich zu benehmen, sie verließ sich viel auf ihren Jahve, der bald, bald den grauen Himmel aufreißen würde, in einem goldenen Wagen zu ihnen herabkommen und alle Aufseherinnen mit seinem Schwert besiegen würde. Er würde mit seinem goldenen Schwert alle Aufseherinnen besiegen, zusammen mit ihren Hunden.
Die Zeugen Jehovas mussten nur die Abwendung von ihrem Glauben unterschreiben und dann würden sie freigelassen werden. Doch die Kleine hatte nichts unterschrieben, weil sie auf dich vertraut, du Dummkopf. Und ab und zu sang sie in der Arbeitszeit. Das war verboten, es sei denn, eine Aufseherin wollte explizit, dass sie singen. Das war auch schon vorgekommen. Sie mussten zwanzig Mal um die Baracken marschieren, die Schneeflocken erfrischten die Haut ihrer Gesichter, während sie sangen: „Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen“, weil sie nach Meinung der Hyäne zu langsam gearbeitet hatten. In dem Moment, in dem sie sich endlich an den ganzen Text der ersten Strophe erinnern konnten und sie brüllten, automatisch Silben ergänzend, weil wenige von ihnen Deutsch konnten, kam eine erschrockene Aufseherin angerannt und flüsterte der Hyäne etwas ins Ohr. Mit der Ansage, dass sie das Letzte vom Letzten seien und es ihnen deshalb nicht gebührte, ein solch heiliges Lied zu singen, kam auch die Erlösung. Dieses Mal.
Aber überhaupt durfte man nicht singen. Man durfte nichts tun, das … Violette verstand nicht, was man durfte und was nicht. Sie hatte immer versucht, sich richtig zu verhalten. Jetzt konnte sie nicht mehr verstehen, was richtig ist und was nicht. Sie hatte mit großer Mühe begreifen können, wie sündig es sein könnte, dass ihre hellen Haare zu einer reizvollen Frisur arrangiert waren. Schlampig. Zu verführerisch. Obwohl, wen könnte sie hier verführen? Die Aufseherinnen waren allesamt Frauen. Die SS? Ach Jahve, darüber denkt man besser nicht nach. Doch was war schlimm daran, wenn die kleine, niedliche Dumme, während sie Bahnen von Zeltstoff zusammensteckt, singt, das konnte Violette nicht begreifen. Und die Kleine summte und summte. Und die Aufseherinnen konnten sie in den Strafblock schicken, taten es aber nicht. Vielleicht verstand dieses Aas, dass sie sich dort einfach in Zweisamkeit mit ihrem geliebten Gott abkapseln würde, und das wars. Und das Fehlen von Essen, wenn man so etwas Essen nennen konnte, würde sie nicht stören. Deshalb schickten sie die Kleine zur Züchtigung. Bei der zweiten Züchtigung hatte sie das Bewusstsein verloren. Ein Arzt war nicht da, weil man sicher gedacht hatte, dass die Kleine jung und deshalb stark sei.
Nach diesem Mal prüfte der Arzt zwischendurch immer den Puls, ob die Geprügelte noch durchhielt. Weil wir euch nicht umbringen wollen, nein, nein, nein, weil wir Material brauchen, das wir hetzen können und das uns neues Kanonenfutter gebärt. Wir wollen euch nur ändern, verbessern, auf dass ihr nicht mehr singt. Damit euch, verdammt noch mal, niemals einfällt zu lallen, wenn wir es nicht verlangen.
Violette versteht, dass die Fähigkeit, wütend zu sein, es ihr möglich macht, dass sie sich gesetzt hat Die Erde nährt sie, die Erde nährt sie. Sie, das unwerte Lebewesen, das keine saubere Unterwäsche anziehen kann. Am schlimmsten trifft es jene, die ihre Monatsblutung haben. Man bekommt eine Mullbinde ausgehändigt, wenn man im Lager eintrifft. Die muss man jedes Mal von Neuem waschen und verwenden. Sie ist dunkelgrau und absurd rau. Die, die ihre Monatsblutung während dieses Strafappells haben, verlieren das Bewusstsein. Zwei werden zur Krankenbaracke weggeschleppt, doch dann, als eine nach der anderen umfällt, kommen sie zurückgehumpelt. Es gibt hier nichts zu simulieren. Steht. Violette scheint es plötzlich, dass sie erkennen kann, dass alles aus dem Wunsch erwächst … Was? Das Unordentliche zu ordnen. Rational zu handeln? Aber das ist doch gut, oder, Violette? Das können sie alle schon verstehen. Dass das schon aus dem Wunsch erwächst, die dunkle, schwere Kraft zu bändigen, die uns alle ermorden könnte. Wenn wir nur nicht am Ende sein werden, bevor diese Kraft kommen wird.
Einmal, als die Kleine wieder summend arbeitete und die Hyäne in den Raum kam, handelte Violette nicht rational. Es war besonders dumm, dass sie das tat. Aber die Kleine hätte eine dritte Züchtigung nicht überstanden. Sie wäre gestorben. Und deswegen hast du es an ihrer Stelle auf dich genommen. Aber es war auch eine gewisse Genugtuung darin, dass ihr blitzschneller Plan aufgegangen war. Als die Aufseherin zur Arbeitsstelle kam, an der die Frauen mit dicken Nadeln nähten, dicke Stücke der Planen zusammenbrachten, und die Kleine wieder summte, mit dem Rücken zur Tür, begann Violette aus vollem Hals zu singen. Manchmal tut sie das. Wie eine Närrin. Eigensinnig und falsch. Zu jenem Ort, an dem Violette ihren Charakter verstehen könnte, wird sie nicht gehen, aber ihre Gedanken tragen sie selbst dorthin und berechnen, ordnen, was sie hätte tun müssen, damit all das nicht passiert wäre. Sie hätte nicht mit Linens schlafen sollen, sondern mit dem Inhaber der Schneiderwerkstatt – vielleicht hätte er sie dann gerettet. Nein, sie hätte ihre Tugend bewahren müssen, einen Mann finden, ihn mit ihrer Schönheit verzaubern, Kinder bekommen und aufziehen. Das hätte sein sollen.
Dann müsstest du hier jetzt nicht stehen. Oder doch nicht? Violette kann Schmutz nicht ertragen. Das quält sie am meisten. Sie spürt, wie sie stinkt, wie ihre Pisse stinkt und die der anderen Gefangenen, die an den Beinen herunterläuft, während sie stehen.
Die Frauen des Strafblocks des Konzentrationslagers Ravensbrück stehen in gestreifter Kleidung, ausgemergelt, ein Teil mit geschorenen Köpfen, sie stehen. Auch die anderen stehen. Violettes Sicht ist vernebelt, ihre Beine sind geschwollen, sie ahnt, dass sie auf den Beinen bleiben muss. Ihr Gefühl war richtig. Die Aufseherinnen mit den Hunden nähern sich dem Strafblock. Was ist heute für ein Tag? Violette überlegt. Heute ist der dritte Tag, denkt sie. Aber welcher Tag, welcher Tag? Der dritte Tag in diesem Leben, aber welcher Tag im normalen Lagerleben? Jetzt nenne ich das Lager schon normal, denkt sie.
Nein, man kann nicht sagen, dass sie denkt. Kann nicht sagen, dass ich denke, denkt sie. Was mit mir geschieht, ist nicht Denken. Die Gedanken sind ein schmerzhaftes Knistern in meinen Adern, das eine seltsame Erleichterung bringt. Mein Platz in dieser Welt ist in diesem für euch unsichtbaren, in Blut und Staub bodensatt gewaschenen, kleinen Strahlen im Kopf meines Ozeans.
Diese Gedanken.
Die kleine Jehovitin fällt um. Sie haben beide noch Haare. Noch nicht kahl rasiert. Sie sind schön. Eine Frau ist schön, wenn sie selbst daran glaubt. Das Tier brüllt drinnen und draußen. Violette hat ein rotes Dreieck auf den Ärmeln und auf der Brust. Das rote Dreieck ist für die Politischen. Eine von Violettes Großmüttern wäre stolz. Wie du lügst, Violette, sie wäre in keinster Weise stolz gewesen. Na gut, ich versuche nur meinen Sinn für Humor zu bewahren, sagt Violette sich selbst. Leise natürlich. Noch leiser als leise. Noch leiser. Soll ich versuchen, der Kleinen auf die Füße zu helfen?

Sie stehen hier, weil Katrīna wieder versucht hat zu fliehen. Sie hat schon zweimal versucht zu fliehen. Katrīna hat ein schwarzes Dreieck. Das bedeutet nichts Gutes.
Wie seltsam, dass es sogar hier, in der Enge dieser Hölle, noch möglich ist, von besseren und schlechteren Situationen zu sprechen. Es ist möglich zu vergleichen. Das Gesagte zu verstehen. Zu versuchen, es einzuhalten. Seine Menschlichkeit zu ersticken. Jegliche Notwendigkeit zu ignorieren für das Kämpfen, für Anerkennung, Berührungen, Lob, Liebe, den Toilettendrang, den Drang, sich zu setzen, weil nur ein Bedürfnis übrig bleibt – zu überleben.
Vielleicht ist Katrīna Vaicas Bedürfnis nach Freiheit stärker als jenes, zu überleben? Weil sie doch nicht so naiv sein kann, zu hoffen, dass man sie nicht erwischt. Und wenn sie erwischt wird, dass sie sie am Leben lassen. Denkt sie einfach nicht über diese Dinge nach?
Vielleicht ist sie eine Heilige?
Die Heilige Katrīna geht auf dem Seil.
Die Heilige Katrīna hängt ein Schwert über uns. Katrīna ist eine Zigeunerin. Sie ist Seiltänzerin.
Vor Millionen und Millionen Momenten, als die Welt noch lebendig und pulsierend war, ging Katrīna in einem geschmacklosen, glänzenden, kurzen Rock, mit fliegendem Saum, langen, schwarzen Socken an den Beinen, deren Anblick allein den halbwüchsigen Jungs die Unschuld raubte, auf dem Seil über den zurückgeworfenen Köpfen der Jungen.
Jetzt ist Katrīna wieder geflohen. Am ersten Tag des Stehens, während die Aufseherinnen Essen verteilten an die Besten, die sich nicht im Strafblock befanden, erzählte eine der anderen flüsternd, wie es sich abgespielt haben könnte.
Sie war durch ein kleines Fenster gekrochen, das auf den Hof geht, und hatte eine alte Decke darauf geworfen. Sie bekam es sogar fertig, für eine Decke eine unpassende Verwendung zu finden, brüllt Violette zu sich. Meiner Meinung nach hat Katrīna alles richtig gemacht. Indem sie sich mit ihrem Körper auf die Decke warf, bekam sie keinen Elektroschock. Die Tante pflegte zu sagen, Zigeunerinnen seien gierig und dumm. So war es eben. War auch Katrīnas Freiheitsdrang so animalisch, dass sich ihr nichts in den Weg stellen würde? Vielleicht ist das ihre Gier nach Freiheit, die sie antreibt? Und was wird geschehen, wenn sie sie nicht finden?
Violette hasst Katrīna, denn das schlammige Messer aus Eis, das ihren Körper am dritten Morgen im Hof des Konzentrationslagers Ravensbrück aufschneidet, kann nicht einmal durch Violettes zu Stein gewordenen Sinn für Humor zerbrochen werden.
Ich hasse dich, Katrīna, denn wenn du nicht wärst, wäre meine kleine Freundin nicht in den Schmutz des Lagers gefallen, und das Tier, vor dem sie sich noch mehr fürchtet als vor der Hyäne, hätte sich nicht auf sie gestürzt. Wenn du nicht wärst, würden sie mir die Haare abrasieren und mich zur Feldarbeit schicken, am Abend würde ich zurückkehren, Essen bekommen und so etwas wie Kaffee. Ich hasse dich, Katrīna, denn wenn du nicht wärst, würde ich nicht stinken. Ich bete, Katrīna, dass du tot wärst, dass sie deinen friedlichen Körper finden würden und ich mich endlich hinsetzen könnte, ohne Angst, zerrissen zu werden. Wenn es dich nicht gäbe, Katrīna, würde in meinem Kopf nicht dieses Feuer toben, ich könnte ruhig das Gebet wiederholen und wiederholen, das mir die Kleine beigebracht hat, das ich in Gänze verändert habe, weil ich nicht mit dir sprechen kann, du, der du außerhalb dieses Lagers bist, Jahve, du, der du deine Anhängerinnen in völliger Verzweiflung zurückgelassen hast. Aber ich muss zu jemandem beten. Und deshalb bete ich und Gott, wenn ich dich so nennen könnte, hilf mir und mach, dass heute nicht der Tag ist, an dem ich sterben muss. Amen.
Ich habe einen roten Fleck in der Herzgegend, aber ich rezitiere in mir das Gebet. Weil an einem Tag, an diesem Tag, an dem ich fünfundzwanzig Mal mit der Knute geschlagen wurde, weil ich laut gesungen hatte, sah ich mich aus der Ferne. Und was ich erkenne, lässt mich erstarren. Ich erkenne, dass es Gott gibt. Aber dass er mir nicht helfen kann. Er kann uns nicht helfen. Er kann noch weniger als ich, denkt Violette. Armer, armer Gott. Armer, armer Gott.
Was werden sie mit uns machen, wenn es Katrīna heute gelingt zu fliehen? Wenn sie einen Menschen findet, der ihr hilft in diesem Urlaubsgebiet, in diesem schönen Städtchen Fürstenberg, wo es unmöglich ist, sich zu verstecken? Vielleicht ist sie durch den See geschwommen, vielleicht ertrunken, eins geworden mit dem Wasser, doch uns werden sie eine nach der anderen ermorden? Die Polinnen in den Krankenbaracken, denen sie Bakterien injizieren, die sie in wandelnde Eiter-Ampullen verwandeln, die keinen Schritt mehr tun können ohne Schmerzen. Die Jüdinnen werden gekreuzigt. Die Russinnen und die Prostituierten werden sie totprügeln. Uns – die Künstlerinnen, Lesben, Nonnen, uns – die schönen Linken – nutzen sie als Sklavinnen, manche von uns werden sie ficken, bis von uns nichts mehr übrig ist, und das ist leider keine Metapher für unsere Seelen. Bleibt dennoch etwas übrig?
Violette steht, Violette steht, Violette steht, Violette ist noch am Leben. Die Hyäne, die mit dem Hund zusammen bellt, versucht, die Kleine auf die Beine zu bekommen.
Nachdem man mich für ihr Singen geprügelt hatte, unterschrieb die Kleine das Papier, mit dem sie sich von ihrem Gott lossagte, erinnert sich Violette plötzlich. Warum ist sie noch hier? Die Aufseherin schlägt die Kleine mit der Knute, vorläufig hält sie den Hund noch zurück. Violettes Inneres explodiert vor Schmerz, sie hustet und fällt in den vollgepissten Schnee, hofft, dass sich die Hyäne ihr zuwenden wird. Aber nein, sie hat sich die Kleine ausgesucht für ihre aktuelle Aufgabe. Violette jault, doch auch das interessiert die Hyäne in diesem Moment nicht.
Verurteile nicht, kommt es Violette plötzlich in den Sinn. Verurteile nicht. Von diesem Gedanken allein durchfährt ihren Körper noch eine Schmerzwelle. Was? Was sagst du, du, der du nicht bist?! Du, der einst, vor einem Jahr, meine Seele war? Weil Gott schweigt.
Verurteile nicht, flüstert etwas in ihr. Willst du plötzlich sprechen, du Kröte? Ich will in dir sein und ich bin hier, um zu bleiben. Wer bist du? Wer bist du, du, der sich erdreistet mir vorzugeben, dass ich nicht urteilen darf? Wer dann? Wer dann wird sie richten? Wer wird über dieses Tier richten, das ein schutzloses Kind schlägt, dessen einzige Schuld darin besteht, dass es seinem Gott treu ist oder ein so kurzes Gedächtnis hat, dass es in diesem Höllenloch summen kann? Wer wird über sie richten?
Du weißt nicht, was du an ihrer Stelle tun würdest, etwas Schwarzes, Schleimiges und Abstoßendes fährt in Violette fort. Du weißt nicht, was du tun würdest. Und Violette versteht in ihrem Wahnsinn, dass hier nicht die Rede von der kleinen Jehovitin ist, sondern von der Aufseherin. Du weißt nicht, Violette Dauphine, was du an der Stelle der Aufseherinnen des Konzentrationslagers Ravensbrück tun würdest. Deshalb urteile nicht.

Inga Gaile: Skaistās (Die Schönen), erstmals erschienen 2019 bei Dienas Grāmata.

Deutsche Übersetzung: Der Geschmack von Schwarzer Erde, erscheint im September 2024 beim Ultraviolett Verlag